Vischer, Friedrich Theodor

Vischer, Friedrich Theodor (1807-1887), Schriftsteller und Philosoph. Vischer wurde am 30. Juni 1807 in Ludwigsburg geboren. 1821 besuchte der Pfarrerssohn das Seminar Blaubeuren sowie ab 1825 das Tübinger Stift, wo er sich mit David Friedrich Strauß befreundete. Nach Abschluss seiner theologischen und philosophischen Studien wirkte er kurze Zeit als Vikar (1830) sowie als Repetent in Maulbronn (1831) und Tübingen (1833-1836), wandte sich dann jedoch von der Theologie ab und habilitierte sich 1836 als Professor für Ästhetik (ab 1844 Ordinarius). 1855 folgte er einem Ruf ans Zürcher Polytechnikum, ab 1866 lehrte er am Stuttgarter Polytechnikum.

Neben seiner akademischen Laufbahn tat sich Vischer, der 1848 liberaler Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung war, als engagierter und wortgewandter Publizist hervor. Seine Reden und Aufsätze erschienen gesammelt unter den Titeln Kritische Gänge (1844) und Altes und Neues (1881-1882). Philosophisch vertrat er mit Strauß und Ludwig Feuerbach einen gemäßigten Linkshegelianismus (siehe Georg W. F. Hegel), politisch polemisierte er gegen die romantisch-konservative Rechte, namentlich gegen Joseph von Eichendorff und Friedrich Gervinus. In seinen literaturkritischen Schriften setzte er sich u. a. mit der schwäbischen Dichterschule um Mörike und Uhland sowie mit Friedrich Hebbel, William Shakespeare und neueren Deutungen um die Faust-Gestalt auseinander. Er selbst parodierte die grassierende Faust-Manie (und vor allem Goethes Faust II) in Faust. Der Tragödie dritter Theil [...] von Deutobold Symbolizetti Allegoriowitsch Mystifizinsky (1862, Neufassung 1886). Zu seinen poetischen Werken zählen die Suizid-Erzählung Ein Traum (um 1830), die humoristische Lyriksammlung Lyrische Gänge (1882) und der groteske Roman Auch Einer (2 Bde., 1879), der jahrzehntelang Standardlektüre des gebildeten Bürgertums war. Vischer starb am 14. September 1887 in Gmunden am Traunsee als hochgeachteter Repräsentant der säkularisiert-liberalen, patriotischen Geisteselite der Wilhelminischen Ära.


Verfasst von:
Joachim Nagel

 

Volksdichtung

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EINLEITUNG

Volksdichtung, auf Johann Gottfried von Herder zurückgehender Oberbegriff, der die Gesamtheit anonymer, mündlich überlieferter Texte aus vorliterarischer Zeit bezeichnet. Der Gedanke einer Volksdichtung entstand im Sturm und Drang, wurde aber erst von den Romantikern (den Brüdern Grimm, Johann Ludwig Uhland etc.) zu einer Theorie des kollektiv dichtenden „Volksgeistes" ausgebaut. In der Literaturwissenschaft gilt diese Vorstellung einer „Volkheit" (Goethe) anonymer Texte inzwischen als überholt: Der Verlust eines Autorennamens ist noch kein Indiz für eine kollektive Verfasserschaft.

Der Terminus der Volksdichtung bezieht sich sowohl auf epische, dramatische und lyrische Formen. Dazu zählen Kurzformen (Sprichwort, Zauber- und Segensspruch, Witz, Kindervers), aber auch Langformen wie Volks- bzw. Heldenepos, Mythen (siehe Mythologie), Legenden (Sagen), Volksmärchen (im Gegensatz zum Kunstmärchen), Volkslieder und -balladen. Charakterisiert ist die Volksdichtung durch ihre naive Erzählperspektive, eine schnörkellos-stringente Erzählführung und die entindividualisierte (typisierte) Konzeption der Figuren. Daneben werden zumeist Themen allgemeineren Tenors (Liebe und Tod, Verbrechen und Bestrafung, Kampf von Gut und Böse etc.) behandelt. Neben Volksdichtung waren in der Romantik auch die Begriffe Volkspoesie, Nationalpoesie, Naturpoesie und Urpoesie gebräuchlich. Siehe auch Volksbuch.

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ANFÄNGE VOLKSPOETISCHER FORSCHUNG

Anfang des 19. Jahrhunderts weckten die nach Anregung von Clemens Brentano von den Germanisten Jacob und Wilhelm Grimm zusammengestellten Kinder- und Hausmärchen (2 Bde., 1812-1815) das Interesse an Volkspoesie. Die Arbeit der Brüder Grimm inspirierte u. a. den Schotten Andrew Lang und den Dänen Hans Christian Andersen dazu, selbst Märchen zu sammeln und schriftlich zu fixieren. Die Brüder Grimm waren es auch, die erstmals thematische und strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen deutschen und romanischen Märchen sowie zwischen Märchen und germanischem Heldenepos bzw. Fabel entdeckten.

Letztlich aber legte der Philologe und Orientalist Theodor Benfey (1809-1881) den Grundstein zur vergleichenden Märchenforschung, indem er im Vorwort seiner Übersetzung Pancatantra (1859) die These belegte, dass zahlreiche Elemente heimischer Märchen, aus Indien stammend, von Händlern und Reisenden nach Westen transportiert worden sein mussten. Der Archäologe Karl Otfried Müller (1797-1840) hatte bereits zuvor darauf hingewiesen, dass die mythische Volksdichtung ihren Ursprung in einer Zeit haben könnte, als das Sanskrit und andere Schriftsprachen an Bedeutung verloren. Im englischsprachigen Raum wurde die Volkspoesieforschung durch die populäre Sagen- und Märchensammlung The Golden Bough (12 Bde., 1890, Der goldene Zweig) des Ethnologen Sir James George Frazer angeregt.

In jüngster Zeit ist die lange vernachlässigte Volksdichtung afrikanischer, indianischer und ozeanischer Kulturen immer mehr ins Zentrum des Interesses gerückt. Ausschlaggebend hierfür waren u. a. die Untersuchungen des deutschamerikanischen Ethnologen Franz Boas, der auf die grundlegende (kulturstiftende) Bedeutung der Volksdichtung in schriftlosen Gesellschaften verwies.

Beeinflusst von der Psychoanalyse Sigmund Freuds, untersuchte C. G. Jung Formen der Volksdichtung und stellte bestimmte immer wiederkehrende Bilder, Charaktere und Motive (so genannte Archetypen) fest. Diese führte er auf ein „kollektives Unbewusstes" zurück. Damit war der Begriff der Volksdichtung unter anderer Perspektive in gewisser Weise neu legitimiert. Zahlreiche dieser Archetypen finden sich etwa im Mythenschatz der Völker.

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MYTHOS

Mythen sind aus dem Orient, aus Ägypten sowie aus dem griechischen bzw. germanischen Altertum überliefert. Als eine frühe Form der anonym tradierten Welterklärung stellen sie mit ihrem Personal (Götter, Dämonen etc.) und ihrer Thematik (Welterschaffung, Kampf, Naturgewalt etc.) eine wichtige Art der Volksdichtung dar. Dabei wurde der Wahrheitsgehalt dieser Erzählungen von den Zuhörern wohl nicht angezweifelt.

Die Figurenkonstellationen der Mythen verschiedener Völker sind sich erstaunlich ähnlich. Selbst Götter und Halbgötter unterschiedlichster Gestalt (so etwa Zeus in der griechischen Mythologie oder die Kojoten- oder Rabengötter indianischer Erzählungen) können über Gemeinsamkeiten kaum hinwegtäuschen. In der Figurenzeichnung einiger Mythen verwischen göttliche und menschliche Attribute. So kennt die indianische oder westafrikanische Überlieferung ganze Zyklen, in denen ein kleiner, gierig-listiger oder gar naiv-dummer Halbgott auftaucht, der selbst genauso häufig überlistet wird – oder sich selbst überlistet – wie er andere beschwindelt.

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LEGENDE UND SAGE

Dem Volksglauben (oder -aberglauben) entspringende Legenden oder Sagen befassen sich – im Gegensatz zum Mythos – nicht mit der Vorgeschichte, sondern der konkreten Lebenswelt des Menschen, auch dann, wenn sie religiösen oder phantastischen Ursprungs sind. Geschichten von Heiligen, aber auch von Werwölfen und Geistern haben sich ebenso wie fiktive Abenteuer historischer Persönlichkeiten zunächst mündlich überliefert, bevor sie schriftlich festgehalten wurden.

Gegenstand vieler Volksgeschichten und -balladen, die auf geschichtliche Wahrheit kaum Wert legen, wurden etwa Jesse James, Robin Hood, Davy Crockett und Kit Carson. In der Schweiz avancierte Wilhelm Tell zum Nationalhelden: Sein Apfelschuss wurde legendär.

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VOLKSMÄRCHEN

Das vorliterarische Volksmärchen ist eine einfache, oftmals moralisch auslaufende Erzählform der Volksdichtung, die ohne raum-zeitliche Zuordnung phantastische Figuren (Feen, Zauberer, Dämonen, Zwerge, Drachen etc.) und Begebenheiten (verwunschene Menschen, sprechende Tiere etc.) mit Alltagsmomenten mischt. Im Märchen sind all diese Unwahrscheinlichkeiten „wahr", da die sich aus einer der Erzählung innewohnenden Logik her verstehen lassen. Ursprünglich stammt das Volksmärchen aus dem Orient und wurde während der Kreuzzüge nach Europa gebracht (siehe Märchen).

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VOLKSEPOS

In der Romantik entstand die Bezeichnung Volksepos für Heldenepen wie etwa das germanische Nibelungenlied. Auch von der Odyssee Homers nahm man an, dass sie ursprünglich aus dem schöpferischen Geist des Volkes entstanden sei. Tatsächlich nahm Homer zahlreiche überlieferte Stoffe auf und ließ sie in sein Werk miteinfließen. Wie hier, so kann auch beim Heldenepos die individuelle Schöpferkraft des Dichters nicht geleugnet werden. Epen, die für die Identitätsfindung eines Volkes eine zentrale Rolle spielten, werden Nationalepen genannt. Hierzu gehören das babylonische Gilgameschepos, die römische Äneis (siehe Vergil), das Chanson de Roland (Frankreich), Cid (Spanien), Beowulf (England), das Igorlied (Russland) und Kalevala (Finnland).

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VOLKSLIED

Als Volkslied bezeichnete Herder jene zum Allgemeingut gehörenden einfachen Strophen- und Melodiefolgen, deren Verfasserschaft unbekannt war. Herder, selbst ein Sammler solcher Lieder, wählte diesen Begriff in Anlehnung an Thomas Percy, welcher in seiner Abhandlung über frühe englische Poesie (Reliques of Ancient English Poetry) vom „popular song" gesprochen hatte. Herders Analogbildung aus einem Aufsatz über Ossian 1771 („Populärlied") wurde 1773 abgewandelt. Goethe (Heidenröslein) und Heinrich Heine (Loreley) ahmten diese Volksliedtradition später nach. In der Folge entstanden etwa die Sammlungen Achim von Arnims (Des Knaben Wunderhorn, 1806-1808) und Uhlands (Alte hoch- und niederdeutsche Volkslieder, 1844-1845), die den Glauben der Romantik an eine kollektive Verfasserschaft der aufgenommenen Lieder belegen.

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VOLKSRÄTSEL

Zu den ältesten überlieferten Zeugnissen der Volksdichtung gehören Rätsel (etwa Zauber- und Orakelsprüche), die, oftmals in Sagen, Märchen und Mythen eingestreut, zumeist den Verlauf der Handlung bestimmen: Eine Lösung des Rätsels zieht den Freispruch, ein Scheitern den Tod des Geprüften nach sich. Das Volksrätsel hat seinen Ursprung im Orient. Vor allem bei den Hebräern war diese Form verbreitet. Zu diesem Rätseltyp gehört etwa der berühmte Rätselstreit Salomons mit der Königin von Saba im Alten Testament der Bibel.

 

Volkslied

Volkslied, mündlich überliefertes und im Volk gesungenes, meist einstimmiges Lied.

Der Begriff Volkslied stammt von Johann Gottfried von Herder, der zahlreiche Volkslieder sammelte und herausgab (Stimmen der Völker in Liedern, 1778/79). Das Volkslied ist jedoch nicht – wie die Romantiker glaubten – kollektiv vom „Volk" geschaffen, sondern im mündlichen Überlieferungsprozess mit verwandten oder ähnlichen Liedern verschmolzen, in neue Formen gebracht oder teilweise bis zur Unkenntlichkeit geändert worden. Sehr oft existieren mehrere Varianten desselben Liedes nebeneinander. Volkslieder sind an soziale Ereignisse, Bräuche, Feste oder Arbeitsabläufe gebunden, und die Stücke sind meist in die Form der vierzeiligen, kreuzweise gereimten Strophen gefügt; hier gibt es jedoch viele Varianten. Die durchschnittliche „Lebensdauer" eines Volksliedes betrug bisher etwa drei bis vier Generationen (etwa ein Jahrhundert).

Es gibt eine Fülle von Liedgattungen, die man beispielsweise nach Inhalt (Liebes-, Trinklied), Funktion (Tanz-, Wander-, Zeitungslied und Moritaten der Bänkelsänger), ständischer Zugehörigkeit (Hirten-, Jäger-, Soldaten-, Seemannslied), Region (Jodellied und Schnaderhüpfl) und Altersgruppen der Sänger (Kinder-, Schullied) gliedern kann. Bedeutsam sind im Volksleben Lieder, die den rhythmischen Arbeitsvorgang unterstützen (ähnlich dem Shanty) oder brauchtümlich gebunden sind (Totenklage). Die musikalischen Merkmale von Volksliedern sind so zahlreich, dass sich kein einheitliches Kriterium für einen „Volkston" formulieren lässt.

Volkslieder wurden seit dem 15. Jahrhundert niedergeschrieben, waren jedoch weitaus früher „im Gebrauch". Früheste Aufzeichnungen finden sich in mehreren Liederbüchern (z. B. Glogauer, Lochamer oder Königsteiner Liederbücher, Liederbuch der Klara Hätzlein) sowie in Lautentabulaturen und geistlichen Liederbüchern. Seit der Romantik erschienen vermehrt neue umfangreiche Sammlungen von Volksliedern; bedeutsam ist hier der Deutsche Liederhort (1893/94) von Ludwig Erk und F. M. Böhme. Dem Volkslied nahe steht das literarische, ihm nachgebildete, „volkstümliche" Lied, z. B. Heidenröslein von Johann Wolfgang von Goethe oder zahlreiche Lieder von Carl Friedrich Zelter (1758-1832). Der Übergang zwischen Volksliedern und anderen vokalen Musikformen ist enorm vielfältig – sei es der Übergang zum Kunstlied (z. B. bei Franz Schubert), zum evangelischen Kirchenlied (z. B. bei Martin Luther), zum angelsächsischen Folksong oder zum zeitgenössischen Schlager.


Verfasst von:
Jörg Theilacker

 

Volkstheater

Volkstheater, von Johann Wolfgang von Goethe in Abgrenzung zum Hoftheater geprägter Sammelbegriff für ein nicht schichtenspezifisches Theater (im Gegensatz etwa auch zum bildungsbürgerlichen Theater); im allgemeinen Sprachgebrauch wird heute jedes professionelle Theater als Volkstheater bezeichnet, das die Lebenswelt unterer und mittlerer Bevölkerungsschichten auf volkstümliche Weise zum Thema seiner Stücke macht. Dazu gehören Volksstück, Volksschauspiel, Bauerntheater, Dialektstück oder Lokalstück. Darüber hinaus werden Amateurtheater wie das mittelalterliche Fastnachtsspiel, die Volksbühnenbewegung gegen Ende des 19. Jahrhunderts, das Arbeitertheater oder auch die Volksschauspiele in Oberammergau mit jeweils unterschiedlichen örtlichen, sozialen und historisch-politischen Implikationen dem Volkstheater zugerechnet.

Als einzigartiges Phänomen von theater- und literaturhistorischer Bedeutung gilt das Wiener Volkstheater des 18. und 19. Jahrhunderts; in der Romantik verband sich die Idee eines Theaters für das Volk mit dem Nationalgedanken.


Verfasst von:
Cornelia Fischer