Reaktion (Politik)

Reaktion (Politik), (von lateinisch re-: rück und actio: Ausführung), teilweise polemisch verwendete Bezeichnung für eine rückschrittliche politische Haltung, die für die Verteidigung überkommener Staats- und Gesellschaftsformen eintritt. In der Geschichtswissenschaft wird die postrevolutionäre Zeit nach 1848/49 (siehe Märzrevolution) „große europäische Reaktion” genannt. In Deutschland beginnt sie mit dem Wiedererstarken politischer Kräfte, die für die Erhaltung der Standesprivilegien und der königlichen Autorität eintreten, sowie dem Scheitern der liberalen Einheitsbewegung durch die Auflösung der Frankfurter Nationalversammlung 1849. Gestärkt wurden die reaktionären Kräfte durch die Erstürmung des aufständischen Wien durch Truppen der Habsburger Monarchie (Oktober 1848). Die oktroyierte preußische Verfassung (Dezember 1848) sah ein an der Steuerleistung orientiertes Dreiklassenwahlrecht vor, das dem konservativen Besitzbürgertum die Mehrheit sicherte. Großgrundbesitzer, protestantische Kirche und Beamtentum unterstützten das Polizeisystem des Kamarilla-Mitglieds Edwin Manteufel. 1850 wurde im Vertrag von Olmütz der Deutsche Bund unter Führung Österreichs wiederhergestellt.


Verfasst von:
Roland Detsch


Revolutionen 1848/49

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EINLEITUNG

Revolutionen 1848/49, revolutionäre Bewegungen in beinahe ganz Europa im Lauf des Jahres 1848.

Träger der Revolutionen waren vor allem das erstarkende Bürgertum, das entsprechend seinem Gewicht in der Gesellschaft Mitwirkung im Staatswesen einforderte; daneben waren in unterschiedlichem Maße nationalstaatliche und soziale Komponenten wirksam. Nicht beteiligt an den europaweiten revolutionären Auseinandersetzungen waren Russland, wo die autokratische Regierung jegliche Opposition unterdrückte, sowie England und Spanien, wo durch gesetzgeberische Maßnahmen vorläufig Ruhe eingekehrt war. Obwohl die verfassungsmäßigen Zugeständnisse der Regierungen in Reaktion auf die revolutionären Erhebungen nur vergleichsweise gering und kurzlebig waren, so zeitigten die Revolutionen doch nachhaltige soziale, wirtschaftliche und nationalstaatliche Wirkungen.

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FRANKREICH

Die Revolution begann im Februar 1848 in Frankreich. Hier forderten republikanische und konstitutionell-liberale Kräfte die Reform des Wahlrechtes, so z. B. die Abschaffung des einseitig das Großbürgertum bevorzugenden Zensuswahlrechtes; als die Regierung eine öffentliche Veranstaltung der Republikaner für eine Wahlrechtsreform untersagte, kam es in Paris zu Straßenkämpfen zwischen Opposition und Armee, zur so genannten Februarrevolution. Zentrale Forderung der Opposition, in der sich neben Republikanern und Liberalen auch Sozialisten zusammenfanden, war die Errichtung einer Republik; daneben wandte sie sich gegen die Korruption in der bestehenden Regierung und klagte soziale Reformen zugunsten der armen Landbevölkerung und des städtischen Proletariats ein.

Am 24. Februar 1848 wurde Ministerpräsident François Guizot gestürzt, König Louis Philippe dankte ab, und die provisorische Regierung unter Alphonse de Lamartine, der auch der Sozialist Louis Blanc angehörte, rief die Zweite Republik aus. Im Juni verfügte die neue, republikanisch dominierte Nationalversammlung die Schließung der im Februar gegründeten Nationalwerkstätten, in denen vor allem Arbeitslose beschäftigt wurden. Die Pariser Industriearbeiter, von der Schließung besonders hart betroffen, protestierten gegen diese Verfügung; es kam zu Erhebungen – den ersten sozialistischen in Europa –, die die Regierung blutig niederschlagen ließ. In Reaktion auf den blutigen Juniaufstand und aus dem Bedürfnis nach Ordnung und Sicherheit heraus entschied sich im Dezember 1848 eine deutliche Mehrheit der stimmberechtigten Franzosen für Louis Napoleon, den späteren Kaiser Napoleon III. und Neffen Napoleons I., als neuen Präsidenten der Republik.

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DEUTSCHLAND

Die Februarrevolution in Frankreich gab den Anstoß für die Märzrevolution in Deutschland. Auch hier war die wichtigste Forderung die nach einer konstitutionellen Verfassung; außerdem kämpfte das liberale und republikanische Bürgertum für die Einheit Deutschlands sowie gegen die Pressezensur und ähnliche Restriktionen, die noch aus den Zeiten des Wiener Kongresses und der Karlsbader Beschlüsse stammten, und auch in Deutschland wurden innerhalb der revolutionären Bewegung soziale Forderungen virulent. Wie in Frankreich scheiterte die Revolution in Deutschland, und zwar an der Uneinigkeit der Nationalbewegung, an den zögerlichen Beschlüssen der Nationalversammlung und am Wiedererstarken der Reaktion in den deutschen Ländern.

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ITALIEN

Die revolutionäre Bewegung in Italien hatte ebenfalls konstitutionelle Reformen und die Einigung des Landes zum Ziel und strebte außerdem die Befreiung von der österreichischen Fremdherrschaft (siehe Risorgimento). Bereits 1846 hatte Papst Pius IX. im Kirchenstaat Reformen eingeleitet und damit den Anstoß zu Reformen auch in den anderen italienischen Staaten gegeben. Im Februar 1848 wurde im Königreich Sardinien-Piemont per Verfassung die konstitutionelle Monarchie mit Zweikammersystem eingerichtet; im Königreich Neapel-Sizilien kam es im Januar 1848 zu schichtenübergreifenden Aufständen, die König Ferdinand II. schließlich zwangen, ebenfalls eine Verfassung zu erlassen; und auch in der Toskana und im Kirchenstaat traten Verfassungen in Kraft. Im Kampf gegen die antiliberale, österreichische Fremdherrschaft übernahm König Karl Albert von Sardinien-Piemont die Führung der italienischen Staaten; nach anfänglichen Erfolgen unterlagen die Italiener im Juli 1848, und auch nach der Wiederaufnahme des Krieges im März 1849 konnten sie die Österreicher nicht bezwingen. Der Versuch, die Österreicher aus Italien zu verdrängen und einen selbstbestimmten, konstitutionell organisierten Staat zu schaffen, war gescheitert.

Inzwischen war es im November 1848 in Rom zu radikaldemokratischen Erhebungen gekommen; der Papst floh vor den Aufständen aus Rom, und im Februar 1849 rief Giuseppe Mazzini in Rom die Republik aus (siehe Römische Republik). Bis zum Sommer konnte sich die Republik gegen französische und österreichische Truppen, die der Papst zu Hilfe gerufen hatte, verteidigen; dann wurde sie geschlagen, und der Papst kehrte nach Rom zurück. Nicht nur der Befreiungskampf gegen Österreich, sondern auch die Revolutionen im Inneren waren in Italien weitgehend gescheitert; auch hier waren es die Uneinigkeit der Führer der revolutionären Bewegungen sowie das Erstarken der reaktionären Kräfte in den italienischen Staaten, die einen Erfolg der revolutionären Bewegungen verhinderten.

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ÖSTERREICH

Im Vielvölkerstaat Österreich führten wachsender Nationalismus bzw. der Wunsch nach Selbstbestimmung u. a. in Böhmen, Ungarn, Galizien und Kroatien zu Aufständen, die überall auch soziale Komponenten hatten. Die Aufstände wurden niedergeschlagen, die Habsburgermonarchie aber schwer in Mitleidenschaft gezogen. In Wien revoltierten, beeinflusst von der Märzrevolution in Deutschland, vor allem Arbeiter und Studenten; sie erreichten im März 1848 u. a. die Abschaffung der Zensur, die Einrichtung einer konstitutionellen Komponente im Regierungssystem und schließlich die Absetzung des Fürsten von Metternich. Die Verfassung vom April musste die Regierung nach neuerlichen Aufständen im Mai wieder revidieren; Zweck der Verfassung war nicht nur die Einführung eines konstitutionellen Systems, sondern vor allem auch die Lösung der Nationalitätenfrage. Im Oktober brach in Wien erneut ein Aufstand aus, der wiederum blutig niedergeschlagen wurde; in der Folge dankte Kaiser Ferdinand I. zugunsten seines Neffen Franz Joseph I. ab, der seine Hauptaufgabe in der Wiederherstellung der kaiserlichen Autorität und der Unterdrückung der nationalen und liberalen Bewegungen sah. Im März 1849 oktroyierte die Regierung, nachdem sie mit dem gewählten Reichstag nicht zu einer Einigung gekommen war, eine Verfassung und schrieb damit die Rückkehr zur alten Ordnung fest (siehe Märzverfassung).

In Ungarn leitete im März 1848 Lajos Kossuth mit seiner Forderung nach der Autonomie für sein Land die Revolution ein. Noch im März setzte die österreichische Regierung den Oppositionellen Lajos von Batthyány als ungarischen Ministerpräsidenten ein. Im April musste sie die ungarische Verfassung, die Ungarn nur noch durch Personalunion mit Österreich verbunden sehen wollte und die ein parlamentarisches System schuf, anerkennen. Allerdings sahen sich nun die Serben von den Ungarn unterdrückt und erhoben sich; die folgende Intervention Österreichs in Ungarn führte im April 1849 zur ungarischen Unabhängigkeitserklärung und zur Errichtung der Republik unter Lajos Kossuth. Mit russischer Hilfe schlug Österreich die Revolution in Ungarn bis zum August 1849 nieder. Auch im Habsburgerreich also hatte die Reaktion gesiegt.

Politisch, d. h. was eine Liberalisierung der Gesellschaft und die Einrichtung parlamentarischer Regierungssysteme anbelangte, waren die Revolutionen in Europa weitgehend gescheitert; wirtschaftlich und sozial aber hatten sie durchaus Folgen: Das Bürgertum, politisch wieder entmündigt, konzentrierte sich nun auf die Wirtschaft und trieb die Industrialisierung voran; auf dem Land wurde die Bauernbefreiung vollendet. In Italien bereitete sie die Einigung von 1861 vor, in der Habsburgermonarchie den österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 und in Deutschland die Reichsgründung von 1871 durch eine „Revolution von oben".

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Roman

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EINLEITUNG

Roman, nach heutigem Verständnis ein erzählender, im Vergleich zu Kurzgeschichte und Novelle relativ umfangreicher Prosatext. Neben Epos und Sage stellt der Roman eine Großform der Epik dar. Untergattungen lassen sich nach Aussageart bzw. Wirkungsabsicht (didaktisch, erbaulich, satirisch, idealistisch, empfindsam, realistisch etc.), nach Form bzw. Erzählperspektive (Briefroman, Tagebuchroman, Ich-Roman, auktorialer Roman, personaler Roman etc.) sowie nach inhaltlich-stofflichen Aspekten bestimmen (Bildungsroman, Abenteuerroman, Ritterroman, Schelmenroman, Schauerroman, Kriminalroman, Künstlerroman, Reiseroman, Heimatroman, Staatsroman, Großstadtroman, Kriegsroman, Liebes- oder Eheroman, Familienroman, historischer Roman, philosophischer Roman etc.). Grenzen sind allerdings zumeist nur schwer zu ziehen; eine reine Untergattung existiert nirgends.

Der Begriff Roman entwickelte sich im 12. Jahrhundert in Frankreich (aus altfranzösisch: romanz, zu lateinisch romanicus: römisch) und bezeichnete zunächst jede Schrift in der lingua romana, also der Volkssprache – im Gegensatz zur lingua latina, dem lateinischen gelehrten Schrifttum. Im ausgehenden 13. Jahrhundert fand er dann ausschließlich für Prosaliteratur Verwendung. Im Deutschen existiert das Wort Roman in der heutigen Bedeutung erst seit dem 17. Jahrhundert.

Der Roman profilierte sich erst zu Beginn der Neuzeit als eigenständige Gattung, gewann aber seit seiner Akzeptanz als „hohe" Literatur im 18. Jahrhundert zunehmend an Bedeutung und entwickelte bis heute eine gewaltige Vielfalt des Erscheinungsbildes. Mit dem Beginn der industriellen Buchproduktion um 1800 und der Formierung einer modernen, d. h. extensiv konsumierenden Literaturgesellschaft avancierte er zur populärsten Prosa- und Literaturgattung überhaupt. Einerseits als triviales „Lesefutter" in Fülle verbreitet (siehe Trivialliteratur), demonstriert er andererseits als Sprachkunstwerk beständig seinen experimentellen Charakter, wobei in der Moderne und der Postmoderne die Handlung als strukturbildendes Element zunehmend in den Hintergrund tritt zugunsten multiperspektiver, häufig am Film orientierter Darstellungsweisen (Montage, Simultantechnik etc.).

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ANTIKE UND MITTELALTERLICHE URSPRÜNGE

Bereits in der Antike entstanden in Indien, Japan, China und Ägypten sowie in der arabischen Welt und im griechisch-römischen Raum zahlreiche längere Prosaerzählungen, die später Bestandteil der europäischen Literaturtradition wurden, darunter Teile der Schriften Herodots, Anabasis und Kyru paideia (4. Jh. v. Chr.) von Xenophon und die um 100 v. Chr. entstandene populäre Sammlung erotischer Erzählungen Miles des Aristides von Milet. Aus dem 1. oder 2. Jahrhundert n. Chr. stammt das älteste überlieferte griechische Zeugnis der Gattung, der Liebesroman Chaireas und Kallirhoe von Chariton von Aphrodiasias, der die Muster folgender Werke der Zeit vorgab; dazu gehören die exotische Kulisse, phantastische Fahrten, pathetisch ausgemalte Liebesverstrickungen, eingefügte Reden, dramatisch ausgefeilte Wortwechsel im Stil der Tragödie bzw. der damals gerade neuen attischen Komödie nachempfundene Dialoge. Weitere bedeutende antike Beispiele der Gattung sind Ovids Metamorphosen (ca. 10 n. Chr.), das mit Kulturkritik durchwobene Satyricon des Petronius (um 50 n. Chr.) sowie der für die römische Romanproduktion typische, da satirische Goldene Esel von Apuleius (um 170 n. Chr.). In der für den Roman äußerst produktiven Nachfolgezeit folgten u. a. die Aithiopica des Heliodor (ca. 240 n. Chr.), Leukippe und Kleitophon (Ende des 2. Jahrhunderts) des Achilleus Tatios, die Ephesiaka des Xenophon von Ephesos und der Longos zugeschriebene bukolische Roman Daphnis und Chloe (beide im 2. oder 3. Jahrhundert). Von der immer wieder kolportierten Urfassung der Liebesromane um die Figur des Apollonius von Tyrus aus dem 3. Jahrhundert ist der Verfasser nicht bekannt. Besonders einflussreich waren spätantike Varianten des Apollonius-Romans in lateinischer Sprache (4. bis 6. Jahrhundert) sowie Troja-Romane und Volksbücher, etwa der so genannte Alexanderroman.

Weitere Vorläufer – und vor allem wichtige Quellen – des modernen Prosaromans waren das mittelalterliche Versepos (die isländische Edda, der englische Beowulf, das Nibelungenlied usw.) und, ab dem 12. Jahrhundert, die altfranzösischen Fabliaux, schwank- bzw. märchenartige Verserzählungen erotisch-satirischer Prägung, die auch der Märe ihre Gestalt verliehen. Erste, teils von der griechischen Tradition beeinflusste mittelalterliche Versromane mit antiken Stoffen und Entlehnungen aus der keltischen Mythologie entstanden im Frankreich des 12. Jahrhunderts. Paradigmatisch für die Zeit ist das von höfischen Idealen geprägte Werk des Chrétien de Troyes, das die hohe Minne und ritterliche Abenteuer thematisierte und um 1180 als roman courtois den mittelhochdeutschen Raum beeinflusste; Hartmann von Aue, Gottfried von Straßburg und Wolfram von Eschenbach empfingen vom roman courtois wichtige Impulse. Nach 1190 entstand mit Tristan et Iseult von Bérol der erste tragische Roman spezifisch europäischer Provenienz; Bérol griff die unglückliche Liebesgeschichte von Tristan und Isolde wieder auf, die bereits den anglonormannischen Dichter Thomas von Bretagne 1160 und 1165 zu einer Fassung inspiriert hatte. Zwischen 1230 und 1240 verfasste Guillaume de Lorris den ersten Teil des Roman de la Rose in 4 068 Versen, der die Form der Allegorie innerhalb der Romangattung kultivierte. Im 14. Jahrhundert wurden nur noch wenige Versromane verfasst; erst im 15. und 16. Jahrhundert kam es in Italien durch Ludovico Pulci und Matteo Maria Boiardo bzw. durch Ludivico Ariosto und Torquato Tasso zu einer gewissen formalen Neubelebung.

Unter den wenigen asiatischen Romanen ragt Genji-monogatori (Die Geschichte vom Prinzen Genji) der japanischen Hofdame Murasaki Shikibu aus dem 11. Jahrhundert heraus; generell aber blieb der Roman bis ins 18. Jahrhundert ein gesamteuropäisches Phänomen. Hier vollzog sich auch die Herausbildung seiner Formenvielfalt, wenn auch gelegentlich einzelne Nationalliteraturen bevorzugt bestimmte Romantypen hervorbrachten.

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16. JAHRHUNDERT: DIE EMANZIPATION DER PROSA

Ausgehend von Frankreich begann gegen Ende des 15. Jahrhunderts eine verstärkte Emanzipation der Prosa innerhalb der europäischen Literatur. Da der Roman jedoch weiterhin höfische Ideale propagierte und auch als Form mit diesen gleichgesetzt wurde, kam er beim zunehmend bürgerlichen Publikum in den Verruf, einer neuen, urbaner werdenden Wirklichkeit entgegenzustehen. (Der Vorwurf einer idealisiert-trivialisierten Weltsicht durch den Roman hielt sich bis ins 18. Jahrhundert.) 1485 erschien mit Thomas Malorys Le Morte Darthur in England erstmals eine Druckfassung eines Prosaromans – sie war von William Caxton bearbeitet und bevorwortet worden; Thema war die Artussage. Die galante Weltanschauung seiner Zeit kultivierte der in Italien begründete Schäferroman, der in Iacopo Sannazaros Arcadia (vollständig erstmals 1504) einen frühen Glanzpunkt fand. In Deutschland etablierte sich der Prosaroman erst zur zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, wobei die Wiederentdeckung griechischer Klassiker des Genres im Zuge des Buchdrucks maßgeblich wurde. Herausragende Werke sind die Volksbücher Till Eulenspiegel, das bereits 1515 erschien, und das Lalebuch; beide griffen die vom Stricker initiierte Tradition des Schwankromans wieder auf. Einen frühen Höhepunkt der Gattung des Prosaromans stellt Rabelais’ fabulierfreudiges Buch Gargantua und Pantagruel dar, das zwischen 1532 und 1564 erschien und die phantastischen Abenteuer zweier Riesen zum Thema hat. Er beeinflusste u. a. Johann Fischart zu seiner Affentheuerlich Naupenheuerlichen Geschichtklitterung (1582).

Mit dem so genannten Schelmenroman trat im Spanien des 16. Jahrhunderts erstmals ein Typ des Prosaromans mit relativ differenzierter Psychologie der Figuren und realistischer Wiedergabe ihres gesellschaftlichen Umfelds auf, darunter der anonym veröffentlichte Lazarillo de Tormes (1554) und Mateo Alemáns Guzmán de Alfarache (1559-1604). Aus der Perspektive vagabundierender Helden der sozialen Unterschicht und ihrer verwickelten Abenteuer zeichnete er ein lebendiges, bisweilen sozialkritisches Sittenbild des zeitgenössischen Spanien. Nach dem Protagonistentypus, dem pícaro (spanisch für: Gauner, Schelm), werden diese Romane auch pikarische Romane genannt. Ihr Vorbild ist bis hin zu Johann Jakob Christoffel von Grimmelshausens Simplicissimus (1668), René Lesages Gil Blas (1715-1735) und William Makepeace Thackerays Vanity Fair (1848) spürbar. Noch populärer als die Schelmenromane jedoch war das Genre der damals weit verbreiteten Ritterromane, die alte Ritterepen für ein am Sensationellen interessiertes Massenpublikum aufzubereiten suchten. Der populärste Stoff war zweifellos der des Amadis (Amadis von Gaula, 1569 ff.), der seit 1350 bis Ende des 16. Jahrhunderts immer neue Bearbeitungen und Erweiterungen erfuhr und innerhalb der französischen Literatur gar bis ins 17. Jahrhundert wirkte. In England verfasste Philipp Sidney mit The Countesse of Pembrooke’s Arcadia (1590; Arcadia der Gräfin Pembrock) eine pastoral-chevalereske Prosaromanze, die später ebenfalls als Vorbild für Schäferdichtungen diente und etwa Thomas Nashe beeinflusste. Nashes The Unfortunate Traveller, or The Life of Jack Wilton (1594; Der unglückliche Reisende oder Die Abenteuer des Jack Wilton) wiederum ist das früheste Beispiel eines Schelmenromans in englischer Sprache.

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17. JAHRHUNDERT: DER BEGINN DES MODERNEN ROMANS

Ursprünglich als Parodie auf die grassierende Mode der Ritterbücher verfasst, markiert Miguel de Cervantes’ Don Quijote de la Mancha (1605 und 1612) den eigentlichen Beginn des modernen Romans. Rein vordergründig ein Abenteuerroman über einen Landedelmann, der durch exzessive Lektüre der Ritterbücher und Identifikation mit deren Helden zusehends in eine Traumwelt und in Konflikt mit der Wirklichkeit gerät, gelang dem Autor hier ein Werk von enormem Erfindungsreichtum, Sprachwitz und psychologischem Einfühlungsvermögen, dessen Qualitäten noch der deutschen Romantik als Richtschnur dienten. Ein umfassendes Panorama der anthropologischen und weltanschaulichen Positionen des Barock entwarf Gracián y Morales in seiner philosophischen Romanallegorie El criticón (3 Bde., 1651-1657). Mitte des 17. Jahrhunderts entstanden in Frankreich die monumentalen Liebesromane der Madame de Scudéry. Antoine Furetière, Charles Sorel und Paul Scarron nutzten die Gattung zur Satire. In Deutschland beginnt zur Jahrhundertmitte ein selbständiges Romanschaffen; namentlich Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel und Daniel Caspar von Lohenstein machten sich hier verdient.

Die Tendenz zum psychologischen und sozialen Realismus im Roman setzte sich bis zum Ende des 17. Jahrhunderts fort, gelangte aber erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts voll zur Entfaltung. Frühes Beispiel hierfür ist Marie-Madeleine Marquise de La Fayettes La Princesse de Clèves (1678). Die religiöse Allegorie The Pilgrim’s Progress (1678-1684; Die Pilgerreise) von John Bunyan variiert die Form. 1670 erschien mit Piere Daniel Huets Traité de l’origine des romans die erste Untersuchung zur Geschichte der Gattung. Christian Weise übertrug ein politisch-satirisches Romanschaffen in die deutsche Dichtung (Der politische Näscher, 1676). Im Bereich der Unterhaltungsliteratur ragt Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg (1636-1651) klar heraus und schlägt mit seinem bürgerlichen Impuls eine Brücke vom Barock zur Aufklärung.

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18. JAHRHUNDERT: DER AUFSTIEG DES ROMANS

Seinen Ursprung nahm die Etablierung des Romans als ernst zu nehmender Kunstform des aufstrebenden Bürgertums innerhalb der englischen Literatur. Daniel Defoe, Samuel Richardson, Henry Fielding, Tobias Smollett und Laurence Sterne setzten hierbei für lange Zeit international die Maßstäbe. So legte Defoe mit seinem The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe, of York, (3 Bde., 1719/20; Das Leben und die seltsamen Abenteuer des Robinson Crusoe) den Grundstein der zeitgenössischen Robinsonade. Richardson verband in den Briefromanen Pamela (1740) und Clarissa (1747/48) das traditionelle Gattungssujet der jungen Frau, die ihre Keuschheit verteidigt, mit minutiöser Figurenpsychologie. In ihrer Nachfolge entstand etwa Christian Fürchtegott Gellerts Leben der schwedischen Gräfin von G*** (2 Bde., 1747/48), das wesentlich zur Popularisierung des Briefromans im deutschen Sprachraum beitrug. Unter anderem in The History of Tom Jones, A Foundling (1749; Tom Jones oder die Geschichte eines Findelkindes) schuf Fielding ein farbiges, humorvolles Tableau des zeitgenössischen Lebens, wobei er den Leser zum lächelnden Komplizen seines allwissend-überlegenen Erzählers machte. Smolletts Roderick Random (1748) profilierte diesen Zeithintergrund aus der sozialen Froschperspektive des pikaresken Titelhelden. Zudem parodierte er den moralisierenden Gestus von Richardsons Pamela in An apology for the life of Mrs. Shamela Andrews (1741) und The Adventures of Joseph Andrews and his Friend, Mr. Abraham Adams (1742). In The Adventures of Roderick Random (1748; Die Abenteuer Roderick Randoms), The Adventures of Peregrine Pickle (1751; Die Abenteuer des Peregrine Pickle) und Ferdinand Count Fathom (1753; Die Abenteuer des Grafen Ferdinand Fathom) verband Smollet meisterhaft detaillierte Milieuschilderungen, karikaturistische Charakterporträts und Gesellschaftssatire in einer Weise, die später auf Charles Dickens wirkte.

Zwischen 1759 und 1767 legte Sterne in den neun Bänden von The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman (Das Leben und die Ansichten Tristram Shandys) das ultimative – und innovativste – Meisterwerk der Epoche vor. Während der Titel einen herkömmlichen biographischen Roman vermuten lässt, stellte Sterne die Chronologie einfach um (so wird der Held erst im 3. Band geboren), durchbrach sie durch Abschweifungen (digressions) oder fügte Kapitel ein, die nur aus einem einzigen Satz oder einer leeren Seite bestehen. Die hier vorgebildete Technik der Einschübe und Rückblenden wurde viel bewundert, in Deutschland z. B.von Goethe und Jean Paul, ohne zunächst nachgeahmt zu werden (Ausnahmen waren Denis Diderots Jacques le fataliste von 1773 und Theodor Gottlieb von Hippels Lebensläufe nach aufsteigender Linie, die zwischen 1778 und 1781 in drei Bänden erschienen); erst im 20. Jahrhundert konnte James Joyce sie adäquat fortführen und weiterentwickeln. Auch Sternes autobiographisch gefärbter Reisebericht A Sentimental Journey through France and Italy (1768; Yoricks empfindsame Reise durch Frankreich und Italien) fand Eingang in die Weltliteratur und gab zusammen mit Richardsons Pamela und Oliver Goldsmiths The Vicar of Wakefield (1766; Der Vikar von Wakefield) das Modell für den deutschen Roman der Empfindsamkeit ab. Der Einfluss reicht von Marie Sophie von La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1769-1773) über die Reiseberichte Freiherr von Knigges bis hin zu Goethes Die Leiden des jungen Werthers (1774), dem ersten Romanerfolg der deutschen Literatur. In Friedrich Hölderlins Hyperion (1797-1799) wirkt vor allem der Einfluss Richardsons nach.

1774 entstand mit Christian Friedrich von Blanckenburgs Versuch über den Roman die erste deutsche Romantheorie. Allerdings hatte die Gattung in Deutschland noch keine eigenständige Tradition ausgeformt und zeigte sich daher besonders offen für den Einfluss fremdsprachiger Literaturen. Zudem war ihre Akzeptanz innerhalb des Literaturkanons noch gering. Auch der französische Roman gewann erst im 19. Jahrhundert an Geltung, abgesehen von einigen Meisterwerken wie Antoine François Prévost d’Exiles Histoire du chevalier Des Grieux et de Manon Lescaut (1731; Geschichte des Manon Lescaut und des Ritters Grieux), Voltaires grandios-pessimistischer Zeitsatire Candide ou l’optimisme von 1759 (dem Vorbild für Johann Karl Wezels Belphegor), Choderlos de Laclos’ erotischem Briefroman Les liaisons dangereuses (1782; Die gefährlichen Liebschaften) oder der Nouvelle Heloïse (1761) von Jean-Jacques Rousseau.

Als Antwort auf den Vernunftkult des aufklärerischen Rationalismus entwickelte sich wiederum in England das eigenständige Genre des Schauerromans bzw. der Gothic Novel, ein in allen westlichen Literaturen häufig kopiertes Muster. Mit Horace Walpoles The Castle of Otranto (1764) begann die Traditionslinie; das Buch wies bereits die meisten der charakteristischen Genremerkmale auf, darunter ein düsteres mittelalterliches Schloss oder Kloster bzw. nächtlicher Kirchhof als Schauplatz und Furcht erregende übernatürliche Erscheinungen. Unter anderem Matthew Lewis’ The Monk (1796) oder Ann Radcliffes The Mysteries of Udolpho (1794) bedienten sich der Vorgabe. Literarisch anspruchsvoller präsentieren sich Mary Wollstonecraft Shelleys Frankenstein (1818) und Charles Robert Maturins Melmoth the Wanderer (1820; Melmoth der Wanderer), während William Beckfords Vathek (1786) den Schauerroman bereits persifliert. Noch in Emily Brontës Wuthering Heights (3 Bde., 1847) dient das Schema der Gothic Novel zur Beschreibung der dämonischen Abgründe des Unbewußten. In Deutschland trat der Schauerroman hauptsächlich in seinen trivialen Formen in Erscheinung; eine Ausnahme bildet E. T. A. Hoffmanns Doppelgängerroman Die Elixiere des Teufels (1815/16), der stofflich und motivisch auf Lewis’ Monk zurückgreift.

Von großem Gewicht waren im 18. Jahrhundert der Erziehungsroman rousseauscher Prägung (Émile ou De l’éducation, 1762) und der deutsche Bildungsroman, vor allem – bereits mit negativem Impuls – Anton Reiser von Karl Philip Moritz (1787) und Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96).

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19. JAHRHUNDERT: ROMAN UND MODERNE

Mitte des 19. Jahrhunderts bildete vor allem die französische Literatur mit ihren Vertretern Stendhal, Honoré de Balzac und Gustave Flaubert neue Romanformen aus, die bis ins 20. Jahrhundert hinein verbindlich blieben. England war nach wie vor einflussreich, vor allem bei der prononcierten Darstellung einer Verstrickung von Individuen in ein tragisches Schicksal (Emily Brontë, Thomas Hardy, George Eliot) sowie auf dem Gebiet des historischen Romans; wichtigste Autoren waren hier Walter Scott, Charles Dickens, William Makepeace Thackeray und Anthony Trollope. Besonders Scotts Waverley-Romane (1814-1828) fanden ein starkes Echo, so in Frankreich bei Victor Hugo und Prosper Mérimée, in Italien bei Alessandro Manzoni und in Deutschland, wo sie bis hin zu Theodor Fontane fortwirkten (nach Scotts Vorbild begründete James Fenimore Cooper später den historischen Roman der USA); Jane Austen griff den Detailreichtum von Scotts Büchern wieder auf und bereicherte ihn um psychologische Präzision. Der Feuilleton- bzw. Kolportageroman gewann durch neue Verbreitungsmethoden an Popularität und trug entscheidend zur Trivialisierung des historischen Romans bei. Ein vorherrschendes Thema der Schriftstellergenerationen des 19. Jahrhunderts war die Gesellschaftskritik, die sich in zahlreichen Zeitromanen niederschlug. Wichtig wurden die in den Klassikern des 18. Jahrhunderts entwickelten Techniken der Dialogführung und der pointierten Charakterzeichnung: So kritisierte Dickens die viktorianische Gesellschaft weniger durch eine realistische Darstellung als durch einen phantasievollen Reigen komischer Charaktere und Situationen mit meist versöhnlicher, zuweilen polemischer Tendenz.

Die entscheidenden Impulse erhielt der europäische Roman hierbei von den oftmals unter dem Begriff des Realismus subsumierten französischen Autoren. Die Darstellung einer Verflechtung des persönlichen Schicksals mit der Wirklichkeit der bürgerlichen Gesellschaft sowie der Antagonismus von Trieb und sozialer Norm sollte zum Panorama des individuellen und öffentlichen Lebens entfaltet werden. Mit Julien Sorel stellte Stendhal in Le rouge et le noir (1830; Rot und Schwarz) den Typus des sozialen Außenseiters ins Zentrum des Interesses, der als rücksichtsloser Emporkömmling gegen die Zwänge der nachnapoleonischen Gesellschaft opponiert, Fabrice del Dongo in La chartreuse de Parme (1839; Die Kartause von Parma) repräsentierte den amoralisch-machthungrigen Abenteurer schlechthin. In ähnlicher Weise machte sich Balzac in La comédie humaine (1831-1848; Die menschliche Komödie) zum Geschichtsschreiber des zeitgenössischen Frankreich: Mit den 47 Bänden, die eine von skrupellosem Gewinnstreben sowie von technologischer und wirtschaftlicher Ausbeutung gezeichnete Gesellschaft vorführen, avancierte er zum Gestalter der überzeitlichen ebenso wie der historisch konditionierten Konflikte von Subjekt und System. Deutlich spielt die Comédie humaine in ihrem Titel an auf Dantes Divina Commedia; ursprünglich sollte die Sammlung 137 Bände umfassen. Sie enthält so bekannte Romane wie La peau de chagrin (1831; Das Chagrinleder) und Splendeurs et misères des courtisanes (1838-1847; Glanz und Elend der Kurtisanen).

Mit seiner fast wissenschaftlichen Analyse der psycho-sozialen Konditionen menschlicher Existenz nahm Flaubert bereits Züge des Naturalismus vorweg. Hinzu trat ein stetes Ringen um den adäquaten sprachlichen Ausdruck, der bisher der Handlungskomposition untergeordnet gewesen war. Nicht von ungefähr bezeichnete Jean-Paul Sartre den Autor später als den „Heiligen des Romans" und zielte damit vor allem auf dessen Konzeption als Sprachkunstwerk, die in dieser Rigorosität erst wieder im 20. Jahrhundert auftrat. In dem Ehedrama Madame Bovary (1857) und in L’éducation sentimentale (1869; Lehrjahre des Gefühls) versuchte Flaubert das Alltagsleben mit der Gewichtigkeit und Präzision eines klassischen Epos zu schildern und nahm dabei nahezu alle Erzähltechniken der Moderne vorweg. Der Naturalist Émile Zola bereicherte Flauberts quasiwissenschaftlichen Stil um akribische Milieustudien, in denen er die Abhängigkeit des Individuums von Vererbung und Umwelt herauszustellen suchte, wie in seiner fiktiven Familienchronik Les Rougon-Macquart, die ab 1871 als Folge von 20 Romanen erschien. Darunter finden sich so berühmte Romane wie die mehrmals verfilmte Dirnengeschichte Nana (1879/80) und Germinal (1885), der im Kohlebergbaurevier Nordfrankreichs spielt. Während das Industrieproletariat noch Mitte des Jahrhunderts literarisch kaum in Erscheinung trat – Dickens’ Hard Times (1854) bilden eine Ausnahme –, rückte es mit dem steigenden Interesse der Romanciers an sozialen Fragen zunehmend ins Blickfeld; in Frankreich stellten es auch die Brüder Goncourt in den Mittelpunkt. In Italien zeigt sich diese Verlagerung des Romansujets etwa bei Giovanni Verga und Antonio Fogazzaro (1842-1911), die mit dem so genannten Verismo eine Variante naturalistischen Schreibens schufen, in Spanien u. a. bei Vicente Blasco Ibáñez. In Deutschland war Naturalistisches mehr im Drama präsent, etwa bei Gerhart Hauptmann; die Arbeiter- und Milieuromane von Karl Bleibtreu und anderen sind heute zu Recht vergessen. Erfolgreicher und von teils internationalem Rang präsentieren sich die Romane Theodor Fontanes, der ohne das sozialanklägerische Pathos der Naturalisten feinsinnige Porträts des märkischen Adels und des Berliner Bürgertums an der Schwelle zur modernen Massengesellschaft zeichnete, so im Ehebruchroman Effi Briest (1896) und im autobiographisch gefärbten Altersroman Der Stechlin (1899). In manchen Zügen schimmert hier bereits die filigran-ironische Prosa Thomas Manns durch.

Der russische Roman des 19. Jahrhunderts war formal stark von französischen Vorbildern geprägt, die er thematisch auf russische Verhältnisse übertrug. Häufig geriet er so zur Waffe gegen den feudalen Despotismus des Zarenreiches und lag in beständigem Konflikt mit der rigorosen Zensur. So attackierte Nikolaj Gogol in Die toten Seelen (1842) die desolaten Lebensumstände der leibeigenen Bauern und die erbärmliche Rückständigkeit der russischen Provinz. Sein Generationsgefährte Iwan Gontscharow schuf mit der Titelgestalt des talentierten, jedoch an seiner Antriebslosigkeit scheiternden Oblomov 1859 einen Typus, der in Russland sprichwörtliche Bedeutung erlangte, und zugleich den ersten nationalen Romanklassiker. Iwan Turgenjew, der lange in Deutschland lebte, beschrieb den russischen Landadel und das Bürgertum aus „westlicher" Perspektive, wobei ihm feinfühlige, atmosphärisch dichte Tableaus gelangen (Väter und Söhne, 1862; Neuland, 1877). Der erste russische Romancier von Weltgeltung jedoch war Fjodor Dostojewskij. Mit bis dahin nicht gekannter Intensität durchdrang er psychologisch meisterhaft die Welt der Verzweifelten, Kranken und Verbrecher (Schuld und Sühne, 1866; Der Idiot und Die Dämonen, 1868; Die Brüder Karamasow, 1879/80), ohne erzählerisch zu einer der gestalteten Figurenperspektiven Stellung zu beziehen . Lew Tolstoj teilte mit Dostojewskij die überreiche Figuren- und Ereignisfülle, übertraf ihn aber in der epischen Breite der Darstellung bei weitem. Seine mehrmals verfilmten Hauptwerke Krieg und Frieden (1865-1869) und Anna Karenina (1875-1877) markieren einen Höhepunkt der europäischen Erzählliteratur des späten 19. Jahrhunderts.

Mitte des 19. Jahrhunderts legte Hermann Melville mit Moby Dick (1851) einen der bedeutendsten Romane der amerikanischen Literatur vor; das Buch war seinem Freund Nathaniel Hawthorne gewidmet, der etwa zur gleichen Zeit mit seinen Historical Romances hervortrat. Einen volksnahen Realismus wußte Mark Twain in Tom Sawyers Abenteuer (1876) mit Humor zu verknüpfen; darüber hinaus schuf er mit den Romanen über Tom Sawyer und Huckleberry Finn zwei Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur. Den Naturalismus innerhalb der USA etablierte Frank Norris.

Nachdem die (Künstler-)Romane der Romantik etwa von Novalis und Ludwig Tieck noch stark märchenhaft-abstrakte Züge trugen, fand die Gattung bei Joseph von Eichendorff und Karl Leberecht Immermann, dezidiert aber bei den Autoren des Jungen Deutschland wie Karl Gutzkow, Heinrich Laube, Friedrich Spielhagen u. a. zum konkreten, oftmals politisch-sozialen Zeitbezug. Dies spiegelte sich formal in einem um Authentizität bemühten Schreiben. Bedeutende deutschsprachige Realisten des 19. Jahrhunderts waren neben Fontane die Romanciers Wilhelm Raabe, Gottfried Keller, Gustav Freytag, Jeremias Gotthelf und Adelbert Stifter. Innerhalb der nordischen Literatur begann sich der Realismus bzw. Naturalismus mit den Romanen Arne Garborgs, Knut Hamsuns, Carl Jonas Love Almqvists und Jens Peter Jacobsens durchzusetzen. Bei letzterem zeigten sich später – wie auch bei Hermann Bang – Züge des Impressionismus. Zur Jahrhundertwende prägte Gabriele D’Annunzio den Roman des Ästhetizismus.

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20. JAHRHUNDERT: TRADITION UND EXPERIMENT

Der im 19. Jahrhundert ausgebildete psychologisch-philosophische Romantypus erlebte zur Jahrhundertwende im Werk von Marcel Proust und Thomas Mann seinen Höhepunkt. In À la recherche du temps perdu (1913-1927; Auf der Suche nach der verlorenen Zeit) präsentierte Proust eine Phänomenologie der Liebe und den Konflikt ihrer tabuisierten Erscheinungsformen mit einer einerseits in Konventionen erstarrten, andererseits immer komplexer werdenden Gesellschaft. An das Motiv der verlorenen Zeit knüpft sich ein Netzwerk kleinster und minutiös rekapitulierter Erinnerungspartikel. Das in der Erinnerung erlebte fiktive Dasein der Figuren hat ein Äquivalent in der eigenen Realitätsebene der Sprache. Hier kündigt sich bereits die Autonomie des Sprachkunstwerkes an, die zum Signum moderner Dichtung avancierte (l’art pour l’art).Während sein Bruder Heinrich Mann vor allem das Bürgertum der Weimarer Republik karikierte (Der Untertan, 1916), verbinden Thomas Manns Romane (Buddenbrooks, 1901; Der Zauberberg, 1924; Doktor Faustus, 1947) die Darstellung der Probleme des modernen Europa und seines kulturellen Erbes mit profundem psychologischem Einfühlungsvermögen und bildungsbürgerlicher Ironie. Das Niveau seines Romanwerkes ist im deutschen Sprachraum ohne Parallele.

Dem gegenüber wurde die individualpsychologische Durchdringung des Figurenpersonals im Romanschaffen von Dadaismus, Surrealismus, Futurismus und Expressionismus konsequent destruiert. Jedoch stützen sich diese Bewegungen zumeist auf die Kurzprosaform oder das unmittelbarere Drama. Weitere bedeutende deutschsprachige Romanciers der Moderne waren Rainer Maria Rilke mit Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910) und Joseph Roth mit Gesellschaftsromanen wie Radetzkymarsch (1932) und Die Kapuzinergruft (1938). Franz Kafka zeigte in seinen posthum herausgegebenen Fragmenten Der Prozeß (1925) und Das Schloß (1926) den Menschen in der Verstrickung einer labyrinthischen Bürokratie. Mit Ulysses (1922) schuf der Ire James Joyce den Prototyp des modernen Bewusstseinsromans. Dabei bezog sich der Titel bewußt auf Homers Odyssee, deren abenteuerliche Reise Joyce auf den 16. Juni 1904 ins zeitgenössische Dublin verlegte. Dabei stellte der Autor den Tagesablauf des Protagonisten Leopold Bloom und anderer Figuren mit der neuen literarischen Technik des Stream of consciousness dar, dem unaufhörlichen Fluss bewusster und halbbewusster Gedanken und Assoziationen. Darüber hinaus ist Ulysses ein von der enzyklopädischen Bildung seines Verfassers geprägtes Meisterwerk der komischen Literatur, das den Realismus über seine bisherigen Grenzen hinausträgt. Der neuen Erzählweise widmeten sich u. a. auch Miguel de Unamuno y Jugo und Cesare Pavese.

Innovativ wirkten auch der Amerikaner John Dos Passos mit seinem Roman Manhattan Transfer (1925), der eine perspektivisch gebrochene Analyse der zeitgenössischen Gesellschaft der USA in Form schlaglichtartiger Skizzen zeigte, und Alfred Döblin mit Berlin Alexanderplatz (1929). In ähnlicher Weise wie Dos Passos montierte Döblin Momentaufnahmen des urbanen Alltagslebens und verknüpfte die Biographie seines Romanhelden Franz Biberkopf über eine quasi „filmische" Schnitttechnik mit Umgangs- und Reklamesprache; auf diese Weise machte er auch formal die Großstadt zum Helden des Buchs. Der englische Roman der Bloomsbury group orientierte sich stark an der Psychologie Sigmund Freuds und provozierte die bigotte viktorianische Moral mit freizügigen Darstellungen der Sexualität; dies galt vor allem für D. H. Lawrences Lady Chatterley (1928). Abgesehen von Joyce und Virginia Woolf (Orlando, 1928) blieben sprachliche Experimente selten. Weltweite Beachtung fanden die meisterhaften Kriminalromane und psychologischen Texte Graham Greenes (Am Abgrund, 1938; Unser Mann in Havanna, 1958), die zum großen Teil auch verfilmt wurden. Zu den auch in Europa einflussreichen amerikanischen Romanciers der ersten Jahrhunderthälfte gehörten neben Sinclair Lewis (Babbitt, 1922) und John Steinbeck (Früchte des Zorns, 1939) vor allem F. Scott Fitzgerald (Der große Gatsby, 1925) und Ernest Hemingway (Wem die Stunde schlägt, 1940) mit seiner lakonischen Prosa. Weitere Impulse gingen von Thomas Wolfe und William Faulkner aus, dessen spezifisch polyphone Erzähltechnik in den achtziger Jahren u. a. auf Uwe Johnson wirkte. Mit Thomas Pynchon brachte die amerikanische Literatur auf dem Gebiet des experimentellen Romans später nochmals ein (postmodernes) Erzählgenie hervor.

Besonders nach dem 2. Weltkrieg war der europäische Roman stark auf amerikanische Vorbilder fixiert, was sich u. a. bei Heinrich Böll niederschlug. Nur in Frankreich entwickelten der Roman des Existentialismus, so Albert Camus mit Die Pest (1947), und später der Nouveau roman mit seinem Hauptvertreter Alain Robbe-Grillet (Der Augenzeuge, 1955) ein jeweils eigenständiges Profil. In Westeuropa gewann der Roman an analytischer Schärfe, wie bei Robert Musil (Der Mann ohne Eigenschaften, 1930-1943), der wie Robert Müller und Hermann Broch an der Essayisierung der Form interessiert war, oder bei Thomas Mann (Doktor Faustus, 1947). Zu den wenigen Autoren der unmittelbaren Nachkriegszeit, die sich der experimentellen Prosa verschrieben, gehörten Wolfgang Koeppen und – später, aber auch radikaler – Arno Schmidt; Martin Walser hingegen wandte sich verstärkt dem realistischen Gesellschaftsroman zu. 1956 stellte Max Frisch mit dem grandiosen Einleitungssatz seines Romandebüts Stiller („Ich bin nicht Stiller") die gesamte Tradition der auf Individualitätsstiftung bedachten Gattung in Frage. Heimito von Doderer trat mit den Monumentalepen Die Strudelhofstiege (1951) und Die Dämonen (1956) hervor. Günter Grass brillierte mit seiner sprachbarock ausufernden Blechtrommel (1959), die, orientiert am Muster des Schelmenromans, Kriegs- und Nachkriegsgeschichte als absurdes Panoptikum beleuchtete und für die der Autor den Preis der Gruppe 47 erhielt.

Ab den späten sechziger Jahren zeigte der deutsche Roman eine starke Tendenz zur autobiographischen Innerlichkeit der Neuen Subjektivität (etwa bei Peter Handke), andererseits aber auch zu Politisierung und Gesellschaftskritik. Das wichtigeste Beispiel für letzteres – und einer der bedeutendsten Romane der deutschen Literatur nach 1945 überhaupt – ist Die Ästhetik des Widerstands (1975-1981) von Peter Weiss. Mit seinem vierbändigen Jahrhundertwerk Jahrestage. Aus dem Leben der Gesine Cresspahl (1970-1983) schuf Uwe Johnson den wichtigsten Romanzyklus der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. International kamen neue Impulse in den sechziger und siebziger Jahren vorrangig von den lateinamerikanischen Autoren des Magischen Realismus wie Carlos Fuentes (Terra Nostra, 1975), Mario Vargas Llosa (Das grüne Haus, 1965) und dem Nobelpreisträger Gabriel García Márquez (Hundert Jahre Einsamkeit, 1967). Mit Der junge Mann (1984) versuchte Botho Strauß 1984 eine Neubelebung des deutschen Bildungsromans in der Tradition Goethes. Seit den achtziger Jahren konnten auch deutschsprachige Autoren wieder internationales Renommee erringen, so Patrick Süskind mit Das Parfüm (1985) und der Österreicher Christoph Ransmayr mit Die letzte Welt (1988).


Verfasst von:
Thomas Köster

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Romanze

Romanze (spanisch romance: in der Volkssprache verfasst), aus Spanien stammende volkstümliche Form des Erzählliedes. Seine Anfänge reichen bis ins 14. Jahrhundert zurück und stehen in Zusammenhang mit mündlichen Literaturtraditionen. In ihrer Verbindung von Epischem und Lyrischem weist die Romanze große Ähnlichkeiten zu der im germanischen Sprachraum verbreiteten Volksballade auf. Neben Liebesromanzen entstanden zunächst vor allem Heldenromanzen mit Stoffen, die auf Sagen und Legenden zurückgingen, sowie auf die Kämpfe der Christen gegen die Mauren. Seit dem 16. Jahrhundert wurde die ursprünglich volkstümliche Romanze auch als Kunstdichtung geschätzt und weiterentwickelt; so bildeten sich u. a. pastorale, burleske und satirische Formen heraus, die bald auch in Frankreich Anklang fanden. Die häufigste Strophenform der Romanze bildet ein Vierzeiler mit assonierenden, manchmal auch mit (teilweise) gereimten vierhebigen Trochäen.

Durch die Übersetzung einiger Romanzen von François Auguste Paradis de Moncrif führte Johann Wilhelm Ludwig Gleim die Gattung 1756 in den deutschen Sprachraum ein. Die Dichter des Sturm und Drang sowie der Weimarer Klassik verwendeten den Romanzebegriff zunächst gleichbedeutend mit dem der Kunstballade, so u. a. Gottfried August Bürger, Johann Gottfried Herder, Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller. In der Romantik erfolgte vor allem durch die Dichtungen und Übersetzungen Ludwig Tiecks und August Wilhelm Schlegels eine bewusstere Rezeption der spanischen Romanzentradition. Ihren Höhepunkt erreichte die romantische Romanze in Clemens Brentanos Romanzen vom Rosenkranz (entstanden zwischen 1802 und 1812, erschienen 1852). Zu den letzten bedeutenden deutschen Romanzen gehören Heinrich Heines satirische Dichtungen Atta Troll (1843) und Romanzero (1851).


Verfasst von:
Dietmar Götsch

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